Naomi Klein im Haus der Kulturen der Welt: „Wir brauchen radikale Maßnahmen, die in die Fundamente unseres Wirtschaftssystems eingreifen“

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Die kanadische Bestsellerautorin Naomi Klein stellte im Berliner Haus der Kulturen der Welt ihr neues Buch vor. Darin geht es um den Kampf gegen Klimawandel, den sie in Zusammenhang mit den Kämpfen um soziale Gerechtigkeit stellt. Dabei stellt sie unser Wirtschaftssystem in Frage und fordert radikale Maßnahmen. Diese seien notwendig, um das Überleben der Menschheit zu sichern.

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Mit randloser Brille, weißem Blüschen und Pagenschnitt sieht sie eher etwas bieder aus: Das Posterchild der globalisierungskritischen Bewegung ist kein Punk, und auch keine Draufgängerin. Sie ist herzlich, sensibel und aufmerksam, bemüht, sich nicht als Star zu präsentieren, sondern auf Augenhöhe. Sie ist ein Nerd, belesen und engagiert in der Sache. Aber hier ist sie konsequent und radikal.

Naomi Klein ist derzeit in Deutschland, um ihr neues Buch zu bewerben. This Changes Everything: Capitalism vs. Climate, auf Deutsch gerade beim S. Fischer Verlag erschienen unter dem Titel Die Entscheidung: Klima vs. Kapitalismus. Die kanadische Publizistin schreibt wenige Bücher – drei bisher über 15 Jahre –, aber die sind dann Pflichtlektüre. Und bewegen etwas in den Köpfen, in der Gesellschaft. „No Logo“ und „The Shock Doctrine“ waren wichtige Initialzündungen, die die neoliberale Erzählung von der „Alternativlosigkeit“ durchbrachen und Menschen anregten, sich gegen das System aufzulehnen. Das gilt auch für das neue Buch, dass sich mit der drohenden Gefahr des Klimawandels beschäftigt – und welche Bedeutung dieser auch für die soziale Gerechtigkeit hat.

Auf Drängen italienischer Freunde, wie sie gestern Abend erzählte, war sie vor wenigen Tagen in Frankfurt bei Blockupy, um darauf hinzuweisen, wie eng der Kampf gegen die europäische Austeritätspolitik auch mit dem Kampf gegen den Klimawandel verknüpft ist. In Berlin ist sie im Rahmen der Democracy Lectures zu Gast, die das Haus der Kulturen der Welt gemeinsam mit den Blättern für deutsche und internationale Politik seit dem vergangenen Jahr präsentiert.

Der Chef des Hauses, Bernd Scherer, gab die Einführung persönlich. Der Gast ist wichtig, und auch die Veranstaltungsreihe. Das 1 500 Menschen fassende Auditorium des Hauses war voll bis auf den letzten Platz, es gab eine Video- und Audioübertragung im Haus für diejenigen, die keine Karte mehr ergattern konnten. In den letzten zwei Wochen mussten die Mitarbeiter diverse Interessierte abwimmeln: Leider ausverkauft. Wie bei einem Rockkonzert standen Menschen vor der Tür des Hauses, um noch Restkarten zu bekommen, nur waren sie meist älteren Semesters.

Naomi Klein im Gespräch mit Bernd Scherer

Naomi Klein im Gespräch mit Bernd Scherer

In seiner Einführung betont Blätter-Redakteur Albrecht von Lucke, wie wichtig die Arbeit von Klein Ende der 1990er war, um klarzustellen, dass die Globalisierungskritiker kein Haufen Wirrköpfe sind. Sie lieferte als seriös recherchierende Journalsitin die Fakten und stellte Zusammenhänge her. Sie zeigte auch Alternativen auf, die es laut der dominanten Erzählung nicht gab. Er betonte auch noch einmal die Wichtigkeit, den existenzbedrohenden Klimawandel angesichts der vielen Konflikte in der Welt nicht aus dem Auge zu verlieren. Denn wenn wir nichts tun, wird dieser alles ändern – wie der englische Titel von Kleins Buch sagt. Alles ändern wird sich allerdings auch, wenn wir vom fatalen Pfad abbiegen und den Weg in eine Zukunft gehen, die auf Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft beruht statt auf Ausbeutung der Ressourcen der Erde. Deshalb, und auch angesichts des nächsten Klimagipfels Ende des Jahres in Paris haben auch die Blätter dieses Jahr das Thema Klima zum Schwerpunkt gemacht.

Eine dreiviertel Stunde lang stellte Klein die zentralen Thesen ihres Buchs vor. Zunächst betonte sie noch einmal die Dringlichkeit des Anliegens, warum radikales Handeln hier nicht vermeidbar ist. Ein deutscher Journalist hätte ihr gesagt, die Deutschen hätten schlechte Erfahrungen mit radikalen Umbrüchen und seien deshalb eher für ein langsames, schrittweises Vorgehen zu haben. Der Zeitpunkt dafür sei aber bereits verpasst, so Klein. 1988 hatte der Klimaforscher James Hansen vor dem US-amerikanischen Kongress den Klimawandel attestiert und das Problem wurde zum ersten Mal ernst genommen. Auf dem Klimagipfel in Rio de Janeiro 1992 wurde zum ersten Mal auf globaler Ebene darüber diskutiert. Dies sei der denkbar schlechteste Zeitpunkt für diese Erkenntnis gewesen. Es war die Blütezeit des Neoliberalismus, der durch den Zusammenbruch des Ostblocks noch einmal an Fahrt aufgenommen hatte. So hätte man verpasst, effektive Maßnahmen zu treffen und müsse nun in das Fundament unserer Wirtschaftsordnung eingreifen, um die Katastrophe zu vermeiden.

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Die Paradigmen des Neoliberalismus stünden genau im Gegensatz zu dem, wie wir jetzt handeln müssen: Statt Privatisierung brauchen wir eine starke Öffentlichkeit, statt weniger Steuern müssen wir die Umweltverschmutzer mehr finanziell in die Pflicht nehmen, um die Mittel für eine Umstrukturierung der Wirtschaft aufbringen zu können, statt Deregulierung brauchen wir härtere und verbindlichere Auflagen für die Konzerne. Warum richtet sich ihre Kritik aber gegen den Kapitalismus als solchen und nicht nur gegen seine entfesselte Version? Weil der Kapitalismus auf Wachstum beruhe. Dieses Konzept vertrage sich nicht mit den endlichen Ressourcen der Erde. In der späteren Fragerunde übt Klein aber freundliche Kritik an der Degrowth-Bewegung. Sie fände das Label falsch, denn es gehe nicht generell um ein Schrumpfen oder einen Wachstumsstop – einige Sektoren der Wirtschaft, wie die der nachhaltige Energiesektor, müssten nämlich im Gegenteil dringend wachsen. Darauf muss man gerade in Zeiten der Austeritätspolitik sehr vehement bestehen, weil es sonst keine Mittel dafür gäbe.

Genaue Ausgestaltung der „Nächsten Ökonomie“ in den Kinderschuhen

Wie auch im Buch geht sie nur vage darauf ein, wie die neue Gesellschaft, die „Nächste Ökonomie“ aussehen soll. Sie deutet jedoch Entwicklungslinien an, über die unter Wissenschaftlern und Aktivisten ein weiter Konsens besteht: Das Transportwesen muss sich radikal ändern, das Ideal sei ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr, und eine Agrarwende, hin zu einer Agroökologie, wo traditionelle Anbaumethoden mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen verbunden sind, die eben nicht „Chemie“ heißen, sondern Pflanzen möglichst natürlich wachsen lassen – mit nur wenigen, aber entscheidenden Eingriffen durch die Menschen. Wichtig sei es gerade in diesen Krisenzeiten den Menschen zu vermitteln, dass es um ihr alltägliches Leben gehe, das abstrakte Thema mit der täglichen Sorge um die eigene Existenz zu verbinden, dass die vielen kleinen sozialen Kämpfe auch viel mit dem Klimawandel zu tun hätten, und dass dieser Kampf auch Chancen beinhalte auf Jobs und generell ein besseres Leben.

Während des Vortrags war merkwürdig still im Saal – nur bei einigen zentralen Aussagen wurde geklatscht.. Ich befürchtete, dass die Menschen, die sich gegen einen Kopfhörer mit Simultanübersetzung entschieden hatten, vielleicht doch nicht folgen konnten. Die Themen, soweit man mit ihnen nicht vertraut ist, sind nicht einfach, auch wenn Klein sie so klar wie nur möglich präsentiert. Nach der Veranstaltung konnte ich jedoch anhand der Gespräche feststellen, dass gerade dieses Neue, Komplexe und Spannende die Leute gefesselt hat, so dass sie angestrengt zugehörten hatten und verstehen wollten.

Hin und wieder quäkte im stillen Saal ein Kind. Das war der zweijähriger Sohn von Naomi Klein, der in ihrem Buch eine wichtige Rolle spielt. Er war, wie sie sagte, zum ersten Mal bei einer ihrer Lesungen dabei. Ihr Gesicht bekam einen anderen Ausdruck, als sie der Vater ihn kurz vor ihrem Vortrag hereinbrach und er zu ihren Füßen anfing zu spielen. Im Buch beschreibt sie im letzten Kapitel sehr offen und persönlich, wie lange und intensiv sie und ihr Partner versuchten, ein Kind zu bekommen und machte daraus eine Allegorie auf die aktuelle Situation und das Leben an sich. Dass dieser kleine Fratz nun auf der Welt ist, entgegen aller Widrigkeiten, ist auch ein Zeichen der Hoffnung.

Luise Neumann-Cosel von der BürgerEnergieBerlin-Genossenschaft und Tadzio Müller von der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Luise Neumann-Cosel von der BürgerEnergieBerlin-Genossenschaft und Tadzio Müller von der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Klein beschloss ihren Vortrag mit der Aussage, dass sie gar keine Optimistin sei, wie viel annehmen. Sie sei nur keine Nihilistin. Sie wisse genau, dass die Chance, die wir haben, sehr klein ist – aber nichtsdestotrotz müsse man sie nutzen. Im Anschluss gaben Tadzio Müller von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und und Luise Neumann-Cosel von der BürgerEnergieBerlin-Genossenschaft noch Beispiele dafür, wie man sich lokal engagieren kann, um die in Kleins Buch aufgezeichneten großen Ziele zu erreichen. Klein stellt Deutschland trotz aller Probleme als gutes Beispiel dar, wie man eine Energiewende erreichen kann. Immerhin haben wir doch einiges geschafft, mehr als in anderen Ländern.. Der Anteil hier sei bereits auf über 25% gestiegen. Generell betonte Klein, wie viel sich auch global in dem Bereich in den letzten Jahren getan hat – seit sie vor fünf Jahren angefangen hat, das Buch zu schreiben, und auch seit seiner Veröffentlichung auf Englisch im September. So habe sich eine immer stärker werdende Divestment-Bewegung entwickelt, der sich jüngst sogar der Guardian angeschlossen hat, die Anti-Fracking-Bewegung hat lokale Fracking-Verbote erreicht wie jüngst in Schottland und im US-Bundesstaat New York. Und es gibt inzwischen auch den wissenschaftlichen Nachweis, dass man den weltweiten Energiebedarf ausschließlich mit regenerativen Energien stillen kann.

Autogrammstunden oder lange Gespräche mit Fans sind nicht das Ding von Naomi Klein. So zog sie sich schnell nach dem Ende der Veranstaltung zurück, während viele Teilnehmer im Foyer noch eine Weile diskutierten. In der S-Bahn auf dem Heimweg hörte ich zufällig ein Gespräch über Atomkraft – ob diese besser sei, wenn man sie „sicherer“ mache oder ob man ausschließlich auf regenerative Energien bauen könne. Es sei wohl eher eine ideologische Frage, so die Antwort. Nein, war ich geneigt einzuwerfen, Atomkraft ist für meisten erst zu nehmenden Umweltaktivisten wie auch Klein kein Thema. Der einzige anerkannte, und deshalb auch oft kritisierte ist Guardian-Autor George Monbiot. Ich wollte ihnen mein zerfleddertes Buch ins Gesicht halten, von dem ich gerade die letzten Seite las. Ich ließ es bleiben. Ich hatte in letzter Zeit so viel dafür geworben – für mich ein Buch, was jeder gelesen haben muss, wenn er die Welt verstehen will. Und will, dass die Menschheit eine Zukunft hat. So ernst ist es.

Website This Changes Everything (English)
Verlagsankündigung S. Fischer

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